Gedanken zur homöopathischen Anamnese/ Fallaufnahme
Die homöopathische Anamnese verlangt vom Homöopathen ein großes Einfühlungsvermögen und eine sorgfältige Vorgehensweise, um entsprechend der Simile-Regel das zur Symptomatik am besten passendes Arzneimittel herauszufinden.
Das Erstgespräch (die Erstanamnese) kann bei chronischen oftmals eine Stunde oder mehr Zeit brauchen.
Jede gute Anamnese ist eine Kunst, ähnlich wie ein Portrait, das ein Künstler zeichnet. Je detaillierter das Portrait gelingt, desto mehr ähnelt es der dargestellten Person. Je besser die Anamnese gelingt, desto klarer wird das Bild, das wir vom Patienten erhalten und desto leichter kann ein geeignetes Arzneimittelbild gefunden werden.
Im Grunde genommen gibt es keine festen Regeln zur Fallaufnahme, jede/r Homöopath/In hat eine eigene Persönlichkeit und einen individuellen Befragungsstil, der sich zugleich bei jedem Patienten individuell ausdrückt.
Spontanbericht
Am besten beginnt das Gespräch, indem erst einmal alle augenblicklichen Probleme erzählt werden. Auch schulmedizinische Informationen sind für uns Homöopathen von Interesse, weil sich danach beurteilen lässt wie weit die Pathologie schon fortgeschritten ist. Danach können wir fragen: und was sonst noch? Damit deuten wir an, dass nicht nur körperliche Beschwerden von Bedeutung sind, sondern dass wir auf die Gesamtheit aller Symptome Wert legen.
Die gezielte Befragung
Der nächste Schritt besteht meist darin, den Bericht nochmals durchzugehen, um die genaue Beschaffenheit jedes einzelnen Symptoms zu klären.
Bei der gezielten Befragung können die W-Fragen zur Symptom-Vervollständigung beitragen.
Die W-Fragen helfen also, das Symptom zu präzisieren, um das geeignete homöopathische Mittel (Simile) herauszufinden.
Um bei der Anamnese nichts zu übersehen, ist es gut, Symptome bzw. Informationen über alle Organsysteme zu erfassen:
In welcher Reihenfolge die gezielte Befragung vorgenommen wird, bleibt dem/r Homöopathen/In vorbehalten. Meistens ist es am sinnvollsten, mit der Hauptbeschwerde zu beginnen. Nicht selten ergeben sich daraus weitere Themen mehr aus dem psychisch-seelischen Bereich. Manchmal ist es jedoch besser, zunächst im Bereich der körperlichen Beschwerden alles abzuklären, insbesondere wenn alles zu sehr psychologisiert wird.
Manche Homöopathen benutzen für die Anamnese einen Fragebogen, den der Patient vor der Konsultation ausfüllt. Fragebögen sollten nicht als alleiniges Mittel für die Fallaufnahme eingesetzt werden, sie können jedoch eine wichtige Unterstützung für den homöopathischen Anfänger darstellen, um keine Symptome zu übersehen.
Ideal wäre es, die Anamnese durchzuführen, ohne das Gespräch durch das Notieren von Symptomen zu unterbrechen. Notizen – handschriftlich oder am Computer – sind jedoch unerlässlich, um bei späteren Konsultationen in der Lage zu sein, Details zu vergleichen. Nur so ist es möglich, Heilungsverläufe richtig zu beurteilen und geeignete Arzneimittel zu verordnen.
Bewertung der Symptome
Die bei der Anamnese erhaltenen Symptome lassen sich hinsichtlich der Bedeutung, die sie für die Arzneimittelfindung haben, folgendermaßen in ihrer Wichtigkeit klassifizieren:
Auffallende, sonderliche und ungewöhnliche Symptome sind für die Auswahl des Arzneimittels besonders hinweisend, wie S. Hahnemann im Organon der Heilkunst im Paragraph 153 (in seiner etwas altertümlich anmutenden Schreibweise) betont:
„Bei der Aufsuchung eines homöopathisch specifischen Heilmittels […]sind die auffallenden, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigenheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome des Krankheitsfalles, besonders und fast einzig fest in`s Auge zu fassen; denn vorzüglich diesen, müssen sehr ähnliche, in der Symptomenreihe der gesuchten Arznei entsprechen, wenn sie die passendste zu Heilung sein soll… „
Um ein Symptom als eigentümlich bzw. außergewöhnlich zu erkennen, sind medizinische Grundkenntnisse bzw. Erfahrungen erforderlich.
An zweiter Stelle kommen Gemütssymptome, weil diese als ein Ausdruck der psychisch-emotionalen Ebene des Menschen im Zentrum der Person stehen.
Symptome aus dem Bereich der körperlichen Allgemeinsymptome werden als Ausdruck des gesamten Organismus verstanden und sind daher für die Arzneimittelfindung von großer Bedeutung.
Hierzu gehören die Modalitäten, wie z.B.
Besserung/ Verschlechterung
Sinneseindrücke, Reaktion auf
Essen und Trinken
Schlaf, Träume und Sexualität
Menses
Am wenigsten für die Arzneimittelfindung sind die örtlichen Symptome hinweisend, es sei denn sie sind eigentümlich und besonders außergewöhnlich, denn damit würden sie unter Punkt 1 fallen!
Nach der Anamnese
Im § 104 schreibt S. Hahnemann:
„Ist das Krankheitsbild erst einmal genau aufgezeichnet, so ist die schwerste Arbeit getan. Der Heilkünstler hat dieses Bild für die Kur dann immer vor sich, besonders bei den chronischen
Krankheiten. Er kann es in all seinen Teilen durchschauen und die charakteristischen Zeichen hervorheben. Damit kann er dann dem Übel selbst die passende Krankheitspotenz in Form eines Arzneimittels
entgegensetzen. Erkundigt er sich während der Kur nach dem Erfolg der Arznei und dem geänderten Befinden des Kranken, so braucht er bei seinem neuen Krankheitsbefund nur das wegzulassen, was sich
gebessert hat, und das dazu zu setzen, was noch dazu gekommen ist.“
Nach der Anamnese kann der Homöopath die vielen Symptome, die er notiert hat, nochmals kurz Revue passieren lassen. So wird er vielleicht wie von selbst auf das passende Mittel kommen, vorausgesetzt, dass er die nötigen Arzneikenntnisse besitzt. Auch für den Patienten ist es hilfreich, wenn er merkt, dass Sie seine Beschwerden wahr- und ernstgenommen haben.
Zur Arzneimittelfindung (Repertorisation) gibt es Nachschlagewerke und umfangreiche Softwareprogramme, die aus der Fülle der Arzneimittel die am besten zur individuellen Symptomatik passenden herausfiltern. Die Kunst der zielführenden Repertorisation soll jedoch nicht Gegenstand dieses Artikels sein.
Zusammenfassung
Vieles an der Anamnese erinnert an Zen: den eigenen Geist leer zu machen, um den Patienten mit seinen Beschwerden ganz ohne Bewertung einfach nur wahrzunehmen, so wie er ist, ohne durch eigene Interpretationen und Konzepte sich die Sicht zu verstellen. Die Betroffenen fühlen sich durch diese Art der Begegnung verstanden und angenommen. Ein gut aufgenommener Fall, der in die Tiefe geht und ein lebendiges ganzheitliche Bild vom Patienten vermittelt, ist nicht nur für den Homöopathen schon der halbe Weg zur Arzneimittelfindung, sondern kann auch für den Patienten eine bereichernde Erfahrung sein. Sie bietet ihm die Gelegenheit, sich vieler Zusammenhänge des persönlichen Lebens und Leidens bewusst zu werden.
Dr. med. Johannes Schön
Homöopathische Ordination in Wien
Tel: 0650/ 4328814
www.j-schoen.com